Entwicklungsreport 2021/2022
Ein Report des SZ Innovationsteams

Was formt die Zukunft des Journalismus?

Journalismus verändert sich. Die Gesellschaft ist in Bewegung. Im Innovationsbereich der Süddeutschen Zeitung beobachten wir Entwicklungslinien dieser Veränderung. Nur selten sehen wir revolutionäre Umbrüche, die von heute auf morgen grundlegenden Wandel bringen.

Viel häufiger erkennen wir skalierte Entwicklungsprozesse, bei denen das vermeintlich Alte und das vermeintlich Neue parallel sichtbar sind. Diese eher langfristigen Veränderungen sind langsamer als kurzfristige Hype-Diskussionen — aber eben auch nachhaltiger. Oder wie es der amerikanische Futurist Roy Amara einst formulierte:

“Wir neigen dazu, die kurzfristige Wirkung von Innovationen zu überschätzen und ihre langfristigen Folgen zu unterschätzen”

In dieser Übersicht formulieren wir deshalb bewusst keine konkreten Zukunftsprognosen, Hypes oder gar Forderungen. Unser Ziel ist es vielmehr, die relevanten Entwicklungen zu verstehen, die sich gerade vollziehen — und 2022 nicht nur unsere Branche verändern werden.

Wir beschreiben sie als Verlauf von einem Zustand zu einem anderen. Dieser Prozess ist nicht als Entweder-oder zu verstehen, sondern häufig als Sowohl-als-auch. Das macht die Sache mit den Zukünften nicht leichter, hilft aber vielleicht, relevante Prozesse unterhalb der Schlagworte und Hypes zu verstehen.

Fünf Entwicklungen und die dazugehörigen Begriffe, die das neue Jahr prägen werden - garantiert ohne Hypes

  1. Von der klaren Grenze zum flüssigen Hybrid
    Die Sowohl-als-auch-Kultur

  2. Von der Deutungshoheit zum Kontrollverlust
    Die Nutzungsperspektive

  3. Von der Massenkultur zur massenhaften Nische
    Das Ende des Durchschnitts

  4. Vom Werk zum Netzwerk
    Die Kontext-Welt

  5. Vom Produkt zum Prozess
    Das Ende der Deadline

Hybrid ist nicht nur das Schlagwort für kombinierte Antriebe oder eine neue Arbeitskultur. In der komplexen und häufig unplanbaren Gegenwart ist das Verbinden von vormals Gegensätzlichem eine neue Denkform, die bei der Entscheidungsfindung helfen kann.

Die Sowohl-als-auch-Kultur

Leserinnen und Leser nutzen Inhalte nicht entweder auf dem Smartphone oder auf Papier, sie wünschen sich ein Nutzungsszenario, das man als sowohl als auch beschreiben kann. Nicht mehr die Inhalte-Produzierenden entscheiden über die Verwendung ihrer Inhalte und Produkte, sondern die Nutzerinnen und Nutzer selbst.

Das führt häufig zu widersprüchlichen Entscheidungen — und zu höheren Anforderungen: Inhalte müssen sowohl als auch angeboten werden, um im Wettstreit um Aufmerksamkeit nicht abgehängt zu werden.

Überforderungsbewältigungskompetenz — mit diesem Begriff beschreibt der Journalist und Autor Christoph Kucklick eine Denkweise, die die hohe Komplexität gegenwärtiger Entwicklungenp anerkennt und dennoch nicht der Verlockung einfacher Antworten erliegt. Hybrides Denken schafft die Perspektive sowohl-als-auch zu denken, wo eine entweder-oder-Entscheidung gelernt ist.

In komplizierten Zusammenhängen gibt es sehr viele, aber mit Anstrengung durchaus erkennbare Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Komplexe Systeme entwickeln sich ständig weiter, nehmen externe Informationen auf und Kausalitäten werden dadurch unüberschaubar.

Einfache Antworten (entweder-oder) werden dadurch unmöglich. Es wird notwendig, vermeintliche Widersprüche auszuhalten. Entscheidungen können sowohl richtig, als auch falsch sein—manchmal sogar gleichzeitig.

Das Denken in klaren Widersprüchen und Polaritäten soll Übersicht erzeugen, führt aber in komplexen Systemen häufig zu einer problematischen Vereinfachung. Die Sowohl-als-auch-Kultur, die ein hybrides Denken fördert, kann dabei helfen, das Unvorhersehbare und Überraschende in Entscheidungsprozesse zu integrieren.

Sie basiert auf der Idee, vermeintlich gegensätzliche Entscheidungen gemeinsam zu denken - also Inhalte sowohl auf Papier als auch digital anzubieten.

Daran werde ich es 2022 erkennen:

Büroarbeit, Konferenzen und Veranstaltungen werden hybrid bleiben. Neue Arbeitszusammenhänge werden entstehen, die auf dem Zusammenspiel des vermeintlichen Gegensatzes Home und Office basieren.

Einen Inhalt zu veröffentlichen, bedeutet gerade im digitalen Ökosystem: ihn der Öffentlichkeit zu überlassen. Der beste Weg, um auf diesen Kontrollverlust zu reagieren, scheint darin zu liegen, sehr früh und konsequent die Nutzerperspektive einzunehmen.

Die Nutzerperspektive

Um Aufmerksamkeit musste seit jeher gekämpft werden. Durch den exponentiellen Anstieg an Informationen durch die Digitalisierung, ist der Kampf aber noch härter geworden. Die Demokratisierung der Publikationsmittel hat die Machtverhältnisse verschoben. Die vormalige Deutungshoheit der klassischen Medien ist einem vielstimmigen Kampf um die Frage gewichen: Was ist wahr und was ist falsch? Dabei geht es nicht nur um Desinformationen und Fake-News—es geht um die Frage von Vertrauen.

Vertrauen ist die Voraussetzung für jedes Geschäftsmodell in der digitalen Welt. Obwohl viel über eine “Aufmerksamkeits Ökonomie” gesprochen wird, braucht es Vertrauen für einen langfristigen Erfolg. Es ist leicht, mit emotionalisierten und grellen Inhalten Aufmerksamkeit zu generieren, weitaus komplexer ist es jedoch, mit ihnen Geld zu verdienen. In einer Zeit, in der Medien stärker als je zuvor auf Abonnent:innen angewiesen sind, ist Vertrauen zur wichtigsten digitalen Währung geworden.

Um Vertrauen aufzubauen und nachhaltig zu sichern, ist eine konsequente Ausrichtung auf diese von immenser Wichtigkeit. Welche Bedürfnisse haben sie? Welche Interesse? Wie passen meine Angebote in ihren Tagesablauf?

Die Medien, die ihre Nutzerinnen und Nutzer in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen, sind im Kampf um die langfristige Aufmerksamkeit am erfolgreichsten.

Transparenz und die Reflektion der eigenen Position spielen dabei eine immer wichtigere Rolle. Medien sind deshalb nicht mehr länger unbeteiligte Beobachtende , sie müssen auch ihre eigene Rolle reflektieren — und immer wieder neu erklären. Auch die eigene Markenkommunikation und Geschäftsentscheidungen bekommen so Einfluss auf das Ansehen eines Mediums.

Wo früher galt “eine gute Geschichte findet ihre Leser” ist heute das Maxime richtig “Ohne Kommunikation geht sogar eine gute Geschichte unter”.

Daran werde ich es 2022 erkennen:

User-Centred-Design wird wichtiger werden. Projekte werden häufiger noch als bisher nicht mehr auf Seite der Produzierenden begonnen, sondern aus einem Nutzer-Interesse hergeleitet. Umfragen, Ethnografie und Marktforschung werden an Bedeutung gewinnen.

Aus der Massenkultur des 20. Jahrhunderts wurde im 21. Jahrhundert eine Kultur der massenhaften Nischen. Diese Segmentierung verändert unser Vorstellung von Öffentlichkeit — und die Ansprüche des Publikums an Medien.

Das Ende des Durchschnitts

Die Entwicklung der sowohl-als-auch-Kultur sowie der klare Fokus auf Interessen der Nutzerinnen und Nutzer führen zu einer Veränderungen der Idee von Öffentlichkeit. Zu publizieren ist kein Privileg mehr, sondern der Default-Modus des Digitalen. Die Frage ist nicht mehr wer sendet, sondern wer empfängt. Deshalb richten sich erfolgreiche Medien schon heute an ihren Zielgruppen und nicht mehr an einer imaginären Durchschnitts-Öffentlichkeit aus.

Die Durchschnitts-Botschaft, die für alle und jederzeit gleich ist, verliert zunehmend an Bedeutung.

An ihre Stelle tritt eine nicht nur personalisierte, sondern an Nutzungskontexten orientierte Form von unzähligen Botschaften. Am besten lässt sich diese Entwicklung am Wandel des Radios hin zum personalisierten Streaming-Dienst illustrieren: Statt für alle “die besten Hits” zu versprechen (Prinzip Durchschnitt), konzentriert sich ein Dienst wie Spotify auf die Interessen der Einzelnen (Prinzip massenhafte Nische). Diese Entwicklung wird weitere Gesellschaftsbereiche erfassen — und auch Medien werden darauf reagieren müssen.

Denn durch den Fokus auf den Nutzungskontext entstehen nicht nur andere Botschaften, hier liegt auch ein Wettbewerbsvorteil im Kampf um Aufmerksamkeit und somit eine Voraussetzung um Zahlungsbereitschaft zu erhöhen. Die Inhalte, die sich perfekt in mein Leben, meine Identität und Interessen einfügen können, werden als besonders wertvoll wahrgenommen.

Daran werde ich es 2022 erkennen:

An die Stelle der Idee Wetten-dass? (eine Bühne für alle) wird 2022 weiter das fraktale Prinzip “Spotify” treten, das noch weitere Gesellschaftsbereiche erreichen wird: Personalisierte Zugänge versprechen höhere Wertschätzung.

In der Plattform-Ökonomie steht nicht mehr der Content im Mittelpunkt. Erst durch die Bezüge seiner Meta-Daten entsteht Wert, Content wird also erst durch Kontext wertvoll. Deshalb ist die Kundenbeziehung langfristig mindestens so wichtig wie der Inhalt.

Die Kontext-Welt

Ohne Kontextdaten keine Personalisierung. Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Durchschnitts-Öffentlichkeit, weil Kontextdaten fehlten. Erst durch die Vernetzung und die konsequente Nutzung des Rückkanals ist es möglich geworden, Inhalte kontextabhängig zu filtern und sogar zu erstellen.

Erfolgreiche digitale Angebote konzentrieren sich deshalb nicht nur auf gute Inhalte, sondern messen was, wann, und für wen als “gut” gilt. Hier liegt eine zentrale kulturelle Veränderung der Digitalisierung: der Wert eines Inhalts wird nicht mehr einzig auf Seiten der Produzierenden bestimmt — er entsteht vielmehr in der Auswertung und Nutzung von Metadaten.

Bedürfnisse und Interessen von Nutzerinnen und Nutzern erkennen erfolgreiche digitale Medienangebote nicht nur durch konsequenten Dialog mit ihrem Publikum, sondern vor allem durch den Fokus auf Kontext-Daten. Das Zusammenspiel von Content und Kontext wird in den nächsten Jahren erheblich an Bedeutung gewinnen.

Die bereits gewachsenen Analyse-Einheiten in Redaktion werden deshalb absehbar wachsen — und zunehmend auch inhaltlichen und strategischen Einfluss gewinnen.

Daran werde ich es 2022 erkennen:

Die Post-Cookie-Welt sollte eine sein, in der es gelingt, Datenschutz und Datennutz zu vereinen. Im Jahr 2022 (und den folgenden) wird darum gekämpft werden.

Die einzige Gewissheit im digitalen Wandel ist die Erkenntnis, dass er immer weiter geht. Aber nicht nur die Transformation wird zu einem fortlaufenden Prozess, auch das Publizieren entwickelt sich vom Produkt zum Prozess.

Das Ende der Deadline

Es hört nicht auf. Der Druck, der beim analogen Publizieren von der unumstößlichen Deadline ausging, wird in der digitalen Welt zu einer kontinuierlichen Anstrengung. Digitale Produkte sind flüssig, können immer weiter verändert und angepasst werden. Feeds haben keinen Druckschluss oder Sendetermin, sie enden nicht, sondern sind endlos. Durch die Vernetzung und Verlinkung, wird die gesamte Veröffentlichung zu einem Prozess.

Um diese Entwicklungen zu verstehen, lohnt sich der Blick aufs gesamten Ökosystem (Netzwerk) und nicht mehr nur auf die einzelne Inhalte-Einheit (Werk), dann wird erkennbar, dass. Reaktionen und Rückbezüge Bestandteil der Kommunikation sind. Gemeinsam bilden ein Art Perpetuum mobile der Kommunikation, das von Aufmerksamkeit angetrieben wird. Der öffentliche Widerspruch gegen eine publizierte These ist ebenso Teil des Prozesses wie die Reaktionen in sozialen Medien.

Auf der Meta-Ebene lässt sch aus dieser Entwicklung schlussfolgern: Die Beschäftigung mit Innovation oder neuen Arbeitsformen ist kein Job für eine kurzfristiges Lab- oder Projektteam, sondern muss Bestandteil der operativen Organisation sein.

Denn wer sich konsequent den sich ändernden Nutzungsbedürfnissen orientieren will, braucht einen Rahmen, um immer wieder auf Veränderungen reagieren zu können.

Daran werde ich es 2022 erkennen:

Innovation ist kein abgeschlossener Prozess, es geht weiter. Immer weiter.

Dieser Report ist ein Projekt des SZDM Innovationsteams und des SZ Instituts.
München, Dezember 2021.

Text
Dirk von Gehlen & Johannes Klingebiel

Design
Johannes Klingebiel